Altan Verlag

Bücher

Werner Zillig

Das Mädchen

  • Roman
  • Franz. Broschur
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • ISBN: 978-3-930472-05-5
  • Preis: 17,00 Euro

Kapitel

Seiten

Es war eine sehr spontane Idee im Dezember 2020: Warum nicht, statt sich gegenseitig Bücher zuzuschicken, lieber gemeinsam etwas schreiben? Zeitgemäß einen E-Mail-Dialog. Der Ausgangspunkt, ziemlich vage: Was sind heute die großen Probleme und wie würde ›jeder von uns beiden‹ mit seinen wissenschaftlichen Voraussetzungen und Mitteln diese Probleme analysieren?

Es beginnt in schnellem Wechsel das E-Mail- Gespräch. Ein Bild wird gefunden: Der eine, Volker Ladenthin, sprachkritisch, literaturverliebt und mit einem umfangreichen pädagogischen OEuvre im Rücken, spielt wissenschaftliches Golf. Der andere, Werner Zillig, spielt mit der Analytischen Philosophie als Hintergrund, wissenschaftliches Tennis.

Wie finden die beiden da zusammen? Sie treffen sich, indem sie, manchmal etwas atemlos, alles wechselseitig infrage stellen, analysieren und neu festzurren. Sie spielen Gold, sagen sie dann, wenn sie einen gemeinsamen Punkt gefunden haben. – Schwerpunktthemen: Argumentieren, Erzählen und Lesen, Geschichte. Und dann auch: Ping-pong – Vermischtes.

Werner Zillig, geboren 1949 in Haßlach bei Kronach, ist Linguist und Schriftsteller.

Bis 1990 schrieb er neben sprachwissenschaftlichen Büchern und Aufsätzen vor allem Science-Fiction-Geschichten und Science-Fiction-Hörspiele. 2004 erschien Zilligs Universitätsroman ›Die Festschrift‹.

Seine verstreut erschienenen SF-Erzählungen veröffentlichte er 2017 unter dem Titel ›Mein Sonntag in Münster‹.

Auszug

Peter Pan

26. Dezember 1962. Am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1962 sitzt ein blasser Junge allein an einem Wohnzimmertisch. Es ist die Wohnung seiner Schwester und seines Schwagers, im zweiten Stock, oben im Bahnhof. Vor der Wand, über den Tisch hin, sieht der Junge auf den neuen Fernseher. Das Fernsehbild ist klein und natürlich schwarz-weiß. Ein Film beginnt. Es ist die Geschichte von Peter Pan. Ein dunkelhaariger Junge und ein Mädchen spielen die Hauptrollen in dieser Geschichte. Die Stimme des Mädchens ist, das fällt dem Jungen gleich auf, wie zerbrochen. Die Stimme besteht aus einer Unter- und einer Oberstimme. Das Mädchen steht mit dieser Stimme neben sich selbst und ist von einem Geheimnis umgeben.

Der dunkelgelockte Junge aus dem Film heißt im richtigen Leben Michael Ande. Das Mädchen heißt Helga Anders. Wie mag das schöne Mädchen mit der zerbrochenen Stimme in diese Bilder hineingekommen sein? Wie kommt ein Mädchen mit dreizehn, vierzehn Jahren in diesen Film, in diese Geschichte? Wer ist dieses Mädchen, fragt sich der Junge.

Von diesem Tag an wird der blasse Junge das Mädchen nie mehr aus den Augen verlieren.

Den Hang hinauf

28. Januar 1912. Katharina Gandorfer sieht vor sich in der Morgendämmerung die Schneewellen. Der Hang steigt recht steil an. Über Nacht hat es viel geschneit. Es schneit immer noch, und es liegt eine eiskalte Luft in der Talsenke. Katharina sinkt mit jedem Schritt bis zu den Hüften ein. Oben auf der Straße wird der Wind den Schnee weggeweht haben, hofft sie. Dann kommt sie schneller voran.

Sie will nach Marzling hinein. Dort wartet der Albert in seinem Wagen auf sie. Sie werden weiter ziehen. Sie wird das Kind von dem Albert bekommen. Sie will das armselige Leben in dem geduckten Häuschen dort unten nicht mehr. Eigentlich ist es ja nur eine Hütte, ein Stück weit vom Bauernhaus entfernt. Bettelarm sind sie nicht, die Gandorfer. Es gibt Leute, die schlimmer dran sind. Sie haben zwei Kühe und zwei Schweine im Stall neben der Küche. Tagelöhner ist der Vater trotzdem. Das eigene Vieh versorgt er am Abend und am Morgen, bevor er zum Bauern rübergeht. In den Nachbardörfern sagt der Vater aber, dass er Bauer ist.

Der Konrad, der Sohn vom richtigen Bauern, von dem Bauern, zu dem der Vater geht – der Konrad hat sie haben wollen. Sie haben miteinander im Heu gelegen, das schon. Drei Jahre lang. Dann hat der Konrad aber doch die Hobmeier Maria aus dem Nachbardorf genommen. Wahrscheinlich wollt er sie eh nur ins Heu bekommen. Heiraten hat er immer eine richtige Bauerntochter wollen. Der Vater von der Maria hat einen großen Bauernhof. So ist das halt. Das hat gezählt, der Bauernhof. Gottseidank hat sie kein Kind bekommen von dem Konrad.

Am 24. November ist sie geboren, im Jahr 1883. Ihr Vater hat sie angeschrien, dass sie eine alte Jungfer sein wird in ein paar Jahren. Weil sie sich den Konrad eingebildet hat, der sie dann sitzengelassen hat. Seit die Leut dem Vater erzählt haben, dass sie aus dem Wagen vom Albert gekommen ist, hat er sie ein paarmal ›Du Hur!‹ genannt. ›Mit dem Scherenschleifer machst du rum!‹, hat der Vater gesagt. Aber da hatte der Vater schon Bier getrunken.

Sie ist froh, dass der Albert sie gewollt hat. Er ist ein fescher Mann. Einen wilden Blick hat der. Das gefällt ihr. Manchmal, wenn der Albert ein paar Bier getrunken hat, ist er gut aufgelegt und lacht viel. Das hat sie gern. Der Albert ist nicht wie der Vater, der immer herumschreit, wenn er Bier getrunken hat.

Sie sieht die Schneewehen im Hang, die jetzt blasser werden. Es wird hell. Ihre Beine sind nass vom Schnee. Die Mutter und der Vater werden bald aufwachen, überlegt sie. Der Vater hat sich noch einmal hingelegt, als das Vieh versorgt war. Sie hat ihn gehört und war ganz aufgeregt. Sie werden bald aufstehen und in die Kirche gehen. Da werden sie dann sehen, dass ihr Bett leer ist. Sie will nie mehr zurück. Nicht mehr zurück in dieses Leben.

Heiraten wollt er sie, der Albert. Aber sie hat gelacht und gesagt, dass sie auch so zusammenleben können. Das hätt so leicht keine andere aus dem Dorf gesagt. Bald wird sie im Wagen sein und dann wird sie die Strümpfe und den Rock ausziehen und trocknen. Sie ist halt eine Wilde. ›Eine ganz eine Wilde bist du!‹, hat der Albert gesagt. Sie war sich nicht sicher, wie er das gemeint hat, der Albert. Er wird gleich auf dem Kutschbock sitzen, und sie werden weiterfahren. Weg von hier. Bloß weg aus diesem Dorf.

In einem Wohnwagen

2. Juli 1912. Katharina liegt da, im Wohnwagen. Sie ist schweißnass. Es war eine anstrengende Geburt. ›In deinem Alter geht das nimmer so leicht«, hat die Troll Maria, die Hebamme aus Mengkofen, zu ihr gesagt. Dann hat die Maria den Albert angeherrscht, er soll endlich heißes Wasser bringen. ›Press halt!‹, hat die Maria gesagt, und dann: ›Jetzt stell dich nicht so an!‹ Die Maria ist dann gleich zum Standesamt gelaufen und hat das Kind eintragen lassen. ›So wie es sich gehört‹, hat die Maria gesagt. Katharina schaut sich den Geburtsschein an, den die Hebamme mitgebracht hat. Etwas stört sie schon. Obwohl es ja wahr ist. ›… daß nachmittags um fünf Uhr ein Mädchen geboren worden sei und daß das Kind den Vornamen Berta erhalten habe‹, das will ihr noch eingehen. Das ist ja wahr so. Aber dass das Kind ›von der ledigen Katharina Gandorfer, ohne Beruf, beheimatet in Marzling bei Freising, katholischer Religion, vorübergehend in Ettenkofen, zu Ettenkofen, in einem Wohnwagen‹ auf die Welt gekommen ist. Mussten die das hinschreiben oder ist das die schiere Bosheit? ›In einem Wohnwagen!‹ Überall ist das so, dass die Leut bösartig sind in solchen Angelegenheiten. Das hätten die in Marzling genauso gemacht. Genauso hätten die das gemacht. ›In einem Wohnwagen!‹ Zigeuner halt. Scherenschleifer.

Heinrich

23. Dezember 1935. Berta hält es nicht lange an einem Ort. Seit sie siebzehn ist, zieht sie herum und schlägt sich durch. Meistens als Kellnerin. Wenn es ihr irgendwo nicht mehr passt, dann zieht sie weiter. Geht in ein Wirtshaus und fragt den Wirt, ob er nicht Arbeit für sie hat. Sie kann putzen, bedienen. Vor allem gut bedienen. Die Wirte schauen sie an. Ein schönes Weib ist die! So a richtig resches und fesches Weib! Sie kann die Gedanken bei den Wirten auf der Stirn sehen. Ganz genau kann sie die Männergedanken sehen. Einerseits, denkt der Wirt immer, könnt das ja vielleicht was werden mit der zukünftigen feschen Bedienung. Und außerdem ist es gut fürs Geschäft, wenn ein Madl so ein bildschönes Gesicht hat. Die Männer trinken gleich mehr, wenn da so ein junges Ding ist, das das Bier an den Tisch bringt.

Dann ist sie halt in die Berchtesgadener Gegend gezogen. In den aufregenden Zeiten, als der Hitler gerade angefangen hat in Berlin. Auf einmal sind da große Herren aufgetaucht, vor einem Jahr. Die sind rauf auf den Obersalzberg und haben beim Führer vorgesprochen. So machen die das heute noch. Manche, die da nicht so vornehm sind, kommen dann auch in ihre Wirtschaft. Der Gasthof ›Nonntal‹ war schon immer bekannt für seine gute Küche. Die Frau Haslinger kocht aber auch zu gut. Das sagen alle. Auch die feinen Herrschaften. Die kommen dann und erzählen, dass sie oben beim Führer waren. Dass das ein ganz feiner Mensch ist, der Führer. So menschlich. Ja, das sagen alle. Aber auch – so hat das der Heinrich einmal gesagt, als sie sich schon gut gekannt haben – auch unnahbar sei er, der Führer. Wie aus einer anderen Welt. Das müsse man aber auch verstehen. Wo der doch mit den Großen der Weltgeschichte verkehrt.

So ist der Heinrich zum ersten Mal gekommen. Der Heinrich war ein Wichtiger, das hat sie als erfahrene Bedienung sofort gesehen. Aber komisch war das dann schon, dass der Heinrich sich gleich, kaum dass er sie gesehen hat, ihr so förmlich vorgestellt hat. Aufgestanden ist er und hat gesagt: ›Heinrich Hoffmann aus München, mein Fräulein.‹ Sonst hat er nichts gesagt. Er hat auch nicht, wie manche das tun, die Hacken zusammengeschlagen. Dass der Heinrich so freundlich und zivil war, das hat ihr gefallen. Aber natürlich hat sie von der Frau Haslinger dann gleich erfahren, wer der Herr Hoffmann in Wahrheit war. ›Das ist der Fotograf vom Führer!‹, hat die Frau Haslinger gesagt. ›Ein ganz ein wichtiger Mensch ist das, das kann ich dir sagen! Dass du mir ja freundlich zu dem bist, zu dem Herrn Hoffmann!‹

Es ist halt eins zum andern gekommen. So ist das ja immer. Eines Tages hat der Heinrich gesagt: ›Ich übernachte heute hier. Es ist ja zu spät, um noch nach München zu fahren. Meine Zimmertür steht fai offen. Gell, Berta!‹ Und dabei hat er sie angefasst. Aber nur ein ganz klein wenig. Kurz hat er sie an sich gedrückt. Es ist ihr ein Schauer durch den Körper gegangen. Durch und durch ist es ihr gegangen. Sie hat in dem Moment einfach gewusst, dass sie in der Nacht zum Zimmer von dem Herrn Hoffmann gehen wird. Weiter hat sie nicht gedacht.

Dann, im Zimmer, hat der Heinrich eine Flasche Sekt da stehen gehabt, und er hat erst einmal nichts gesagt. Sie auch nicht angefasst. Er hat zwei Sektgläser gefüllt, und sie musste in dem Moment daran denken, dass die Frau Haslinger, die früher im Ausland Köchin gelernt hat – die Frau Haslinger sagt immer: Sektkelche. Wenn sie dann selbst ein Glas getrunken hat, sagt die Frau Haslinger: un altro flute. Ein schönes Wort ist das: flute. Wie das klingt!

Dann hat der Heinrich ihr den Sektkelch in die Hand gegeben, hat selbst sein Glas genommen und hat mit ihr angestoßen. Nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatten, hat der Heinrich gesagt: ›Weißt du, was heute für ein Tag ist?‹

Sie ist verlegen geworden, und weil sie verlegen war hat sie gelacht: ›Heut ist der 12. September.‹

›Ganz recht‹, hat der Heinrich gesagt. ›Und heute, am 12. September anno 1935, ist mein fünfzigster Geburtstag. Ich würde mich freuen, wenn du mit mir darauf anstößt, Berta.‹

Sie haben ihre Gläser getrunken, haben sich gesetzt, und der Heinrich, das hat sie erst da richtig gesehen, war irgendwie ganz durcheinander. Er hat ihr dann aber gleich erklärt, warum er so durcheinander war. Der Führer hat ihn an diesem Tag auf den Berghof bestellt. Weil eine wichtige Persönlichkeit da sei und es Fotos zu machen gelte. Gestern – der Führer hat kurz und knapp am Telefon gesagt: ›Es gilt einige Fotos von einer wichtigen Persönlichkeit zu machen, Herr Hoffmann! Bitte seien Sie doch pünktlich um zwölf Uhr hier auf dem Berghof.‹ So etwas ist dann natürlich ein Befehl und ich bin gefahren. Dann, als ich angekommen bin, hat der Führer gesagt: ›Wissen Sie denn, Hoffmann, wer die wichtige Persönlichkeit heute ist? Sie sind es! Und heute werden Sie fotografiert. Meinen Glückwunsch zum fünfzigsten Geburtstag, Hoffmann!‹ Dann hat er sich neben mich gestellt und ein SS-Mann hat schon einen Fotoapparat in der Hand gehabt und drei Fotos gemacht. ›Zu mehr als einer kleinen Jause reicht es leider nicht, Herr Hoffmann. Ich muss dann gleich nach Berlin. Wichtige Dinge halt. Sie verstehen.‹ Ich hab kaum rausgebracht: ›Jawohl, mein Führer!‹ So gerührt war ich. Und der Führer hat gesagt: ›Nur nicht so förmlich, Hoffmann. An
Ihrem Ehrentag. Kommen Sie!‹

Sie war dann auch ganz durcheinander. Und sie ist beim Heinrich geblieben in dieser Nacht.

Er ist drei Wochen später wiedergekommen. Dann nach zwei Wochen wieder. Und immer ist sie die Nacht über bei ihm geblieben. Morgen ist Weihnachten, und sie hat jetzt ein Kind unter dem Herzen. Dem Heinrich hat sie es noch nicht gesagt. Dass er ihr Vater hätt sein können, der Heinrich, mit seinem Alter, das hat sie ja immer gewusst. Sie will warten bis zum neuen Jahr. Im Januar irgendwann muss sie es ihm dann aber sagen, das mit dem Kind.

Ihrer Enkelin Leslie erzählt Berta, die Großmutter, später, dass sie mit Heinrich Hoffmann verheiratet gewesen ist. In zweiter Ehe. Als sie dann geschieden worden sind, habe Hoffmann den gemeinsamen Sohn adoptiert. Natürlich hat die Enkelin etwas geahnt. Etwas konnte da nicht stimmen. Wie aber ist Berta Feierer auf die Idee gekommen, von Hitlers Fotografen Heinrich Hoffmann zu erzählen und vorzugeben, sie sei mit ihm verheiratet gewesen, und sie hätten einen Sohn gehabt?

In den klaren Worten der Verwaltungssprache sagt das Stadtarchiv München: »In den hier vorliegenden Melde und Personenstandsunterlagen finden sich keine Hinweise auf eine Verbindung von Bertha Feierer, geb. am 2. Juli 1912 in Ettenkofen, mit Heinrich Hoffmann. Im Sterbregistereintrag ist seine Ehefrau Erna Gröbke genannt, die Sterbefallanzeige des Krankenhauses enthält keine Hinweise auf Nachkommen. In der Meldekarte, die aufgrund noch geltender Schutzfristen nicht vorgelegt werden kann, sind zwei Nachkommen genannt, welche aufgrund ihrer Geburtsjahrgänge (1913 und 1916) nicht für Ihre Recherche in Frage kommen. – Laut Meldekarte war Heinrich Hoffmann zwei Mal verheiratet, seine erste Ehefrau starb am 11.08.1928 in München.«

Immer wieder diese zwei Schreibungen: Bertha und Berta. Alle hätten sie immer nur Bertl genannt, hat Roger Fritz gesagt.

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