Altan Verlag

Bücher

Christoph L. Althof

Der Fall Gottfried Bürger

  • Roman
  • Paperback
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • ISBN: 978-3-930472-03-1
  • Preis: 16 Euro

Kapitel

Seiten

Gottfried Bürger, geboren am 1. Januar 1948, war Philosoph an der Universität Göttingen und im Zweitberuf Autor von Horror-Romanen. Als Philosoph behandelte Bürger vor allem die Frage, was den Begriff des Originals ausmacht. Die Romane Bürgers kreisten um »das unfassbar Schreckliche, das sich aus alltäglichen Situationen heraus ergeben kann« (Helmut Kaminski).

In den Jahren 1992 und 1994 gab es in Göttingen zwei Morde, die beide von der Polizei nicht aufgeklärt werden konnten und die beide mit großer Wahrscheinlichkeit miteinander in Beziehung stehen. Nachdem die Psychotherapeutin Dr. Dagmar Perutz im September 1992 ermordet worden war, wurde Gottfried Bürger am 8. Juni 1994 in seiner Wohnung in Göttingen tot aufgefunden. Klar ist, dass sich Dagmar Perutz und Gottfried Bürger gekannt haben.

In der vorliegenden Rekonstruktion durch den Göttinger Internisten Christoph L. Althof, einen Freund Bürgers, wird eine von zwei Erklärungen der Mordfälle durchgespielt. Das vorliegende Buch ist die Version A dieser Recherche, der die Version B folgen soll.

Christoph L. Althof wurde am 23. Juni 1947 in Northeim geboren. Er studierte Medizin in Göttingen und Heidelberg und schloss sein Medizinstudium 1975 in Heidelberg ab. Nach der Promotion absolvierte er seine Facharztausbildung an der Medizinischen Hochschule in Hannover und war von 1984 bis 2013 Internist mit eigener Praxis in Göttingen.

Von 1985 bis zu Bürgers Tod im Jahr 1994 waren Althof und Bürger befreundet. Nach der Ermordung Gottfried Bürgers 1994 — der oder die kein Täter konnten nicht ermittelt werden –, hat Althof mehrfach versucht, bei den zuständigen Stellen volle Akteneinsicht zu bekommen. Diese wurde ihm mit Verweis auf gültige Datenschutzgesetze verwehrt.

Mit dem ihm bis dahin zugänglichen Unterlagen, vor allem mit dem Nachlass von Bürger, der ihm im vollen Umfang zur Verfügung stand, hat sich Althof 1998 daran gemacht, den Mord in zwei unterschiedlichen Versionen zu rekonstruieren. Nach seiner Pensionierung 2013 hat er in mehreren Anläufen die Ergebnisse seiner Recherchen in zwei romanhaften Darstellungen zusammengefasst.

Auszug

Das Rätsel

Gottfried Bürger genoss diesen Donnerstag Nachmittag im Sommer 1992 auf dem Balkon mit schlechtem Gewissen, denn eigentlich hätte er in der Wohnung sitzen und Seminararbeiten korrigieren müssen. Aber er saß da, unter dem Sonnenschirm, zurückgelehnt, den Roman, den er seit drei Tagen las, auf dem Schoß und ein Glas Weißwein vor sich auf dem Tisch. Er wollte an diesem Nachmittag einfach nicht mehr aufhören zu lesen.
Als das Telefon in der Wohnung läutete, hatte Bürger Angst, es könnte das Dekanat oder das Prüfungsamt sein. Er hörte schon die vorwurfsvolle Stimme einer Sekretärin, die irgend etwas von ihm wollte. Die Klausuren seien noch nicht da, oder das Gutachten für die Magisterarbeit der Frau Soundso müsste schon seit mehr als ei- ner Woche vorliegen.
Bürger ging in die Wohnung, nahm den Hörer ab, und er war sich einen Moment lang sicher, dass der Anrufer soeben aufgelegt hatte. Er hörte nichts. Er sagte zur Sicherheit noch einmal laut »Hallo!«
Mit einer kleinen Verzögerung antwortete jetzt eine Frauenstimme. »Hallo!« Die Stimme schwieg wieder.
Bürger dachte nach. Die nächste Frage, die ihm in den Kopf kam: War das eine Frau, die er vor vielen Jahren einmal gekannt hatte und die herausfinden wollte, ob er sich noch an ihre Stimme erinnerte?
Dann sprach die Frau weiter: »Sie kennen mich nicht. Ich bin – eine Ihrer Leserinnen, Herr Bürger. Eine Leserin, die auf Ihren neuen Roman wartet.« Die Frau lachte an dieser Stelle leise. »Sie sollten die Geschichte von Paul Schwarz zu Ende schreiben.«
»Woher wissen Sie, was ich gerade schreibe?«, fragte Bürger ohne nachzudenken.
»Das ist, glaube ich, nicht so wichtig«, antwortete die Frau.
Bürger schaltete um. Dieses Gefühl des Umschaltens hatte er immer, wenn er mit Vorsatz und gegen den unmittelbaren inneren Impuls etwas Bestimmtes tat. Er wollte den kleinen Ärger, der in ihm aufstieg, nicht in seine Stimme dringen lassen, sondern freundlich sprechen. Er wollte nicht ungeduldig klingen.
»Wollen Sie mir nicht sagen, wer Sie sind?«, fragte er. Er sprach jetzt wie ein geschulter Polizeibeamter, der weiß, dass Geduld immer das Beste auf dem Weg zu guten Verhörergebnissen ist.
»Nein«, erwiderte die Frau. »Nein. Wenn ich das wollte, hätte ich mich gleich mit meinem Namen gemeldet. Es ist besser, wenn Sie nicht wissen, wer ich bin.«
»Und warum wollen Sie mir nicht sagen, wer Sie sind.«
»Da gibt es viele Gründe. Jeder einzelne dieser Gründe würde in Ihren Ohren sehr merkwürdig klingen. Sagen wir darum: Ich möchte die Spannung steigern. Ich bin für Sie einfach – nun, ich bin wichtiger für Sie, wenn Sie nicht wissen, wer ich bin.«
Die Frau machte eine Pause. Bürger hört, wie sie sich räuspert. Dann sagte sie langsam: »Erinnern Sie sich an Ihr Leben gegen Ende der Pubertät? Sie haben wie in einem Rauschgefühl darauf gewartet, dass Sie jetzt erwachsen werden. Sie haben damals zu sich selbst gesagt: ›Ich werde leben, wie die Menschen in Romanen leben und gelebt haben.‹«
Er wollte antworten, aber er hörte das Klicken. Die Frau hatte aufgelegt.
Bürger ging hinaus auf den Balkon, setzte sich, trank einen Schluck Wein und nahm das Buch auf, das er las. Es war ein Roman von Julian Barnes, ›The will to let the world end«. Er hatte den Bleistift zwischen die Seiten gelegt und wendete jetzt die Seite, um weiterzulesen.
Der Abschnitt auf der neuen Seite begann mit diesen Sätzen: »I remember a period in late adolescence when my mind would make itself drunk with images of adventurousness. This is how it will be when I grow up. I shall go there, do this, discover that, love her, and then her and her and her. I shall live as people in novels live and have lived.«
Bürger legte das Buch auf den Tisch zurück, stand auf und sagte halblaut: »Das ist jetzt nicht wahr! Woher konnte diese Frau wissen …«

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