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Almut Schüz schreibt: „Im Jahr 2020 konnten wir das 30jährige Jubiläum der Wiedervereinigung Deutschlands feiern. Im August 2021 jährte sich ein anderes historisches Ereignis zum 30. Mal: der Putsch gegen Gorbatschow. Gegen den Mann also, dem wir die Wiedervereinigung verdanken.“
Weitere wichtige politische Ereignisse fielen in die Zeit ihres Aufenthalts. – Dies ist der lebendige Bericht einer Wissenschaftlerin, die jenen „Zeitenbruch“ miterlebt hat.
Angesichts des heute drohenden Wiederaufflammens des Kalten Krieges hat dieser Blick nach Osten und – mehr noch – der Blick aus dem Osten auf den Westen nichts von seiner Aktualität verloren.
Auszug
Vorfreude auf das Land der Perestroika
Sonntag, 18. August 1991
Immer wieder öffnet sich die Wolkendecke unter uns und gibt den Blick frei auf die Ostsee. Gelegentlich überfliegen wir noch Fetzen von Land und rechts erahnt man eine Weile den sandigen Streifen der polnischen Küste. Dann fliegen wir übers offene Meer.
Acht Jahre sind vergangen seit meinem letzten Besuch in Leningrad, im Herbst 1983. In der Welt sind seither Dinge passiert, die man sich nicht erträumt hätte. Der Kalte Krieg ist beendet, der Eiserne Vorhang gefallen. Eine Utopie ist Wirklichkeit geworden: Führer der westlichen Welt und der Sowjetunion sind persönliche Freunde geworden. Beide Seiten haben ernsthaft begonnen, abzurüsten. Der Warschauer Pakt besteht nicht mehr. Die Mauer ist gefallen. Nur noch ein Deutschland ist auf der Landkarte. Niemand mehr spricht von einem dritten Weltkrieg. Und all dies ist mit einem Namen verbunden, dem eines Mannes, der den Mut besessen hat, in einer gefährlich verfahrenen Situation als erster die Waffen zu senken,1 und der die Stärke besessen hat, die Schwächen des eigenen Systems offenzulegen und tiefgreifende Veränderungen zu erwirken. Aus dem Land der KPdSU und des KGB ist das Land der Glasnost und Perestroika geworden.
Dieses Land werde ich nun wiedersehen, das Land Gorbatschows, in dem sich so viel geändert hat, und die erinnerungsträchtige Stadt, die in mir so viele Fragen aufgeworfen hat, in der ich gelacht, geweint und viele Abende lang sinniert habe. Damals war die Sowjetunion ein durch und durch kommunistischer Staat gewesen; Andropow war an der Macht. Die Welt befand sich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. In Deutschland demonstrierten damals Hunderttausende gegen den Beschluss der NATO, Pershing-II-Raketen zu stationieren. In der Sowjetunion bedrohten die SS-20-Raketen den Westen. Reisen durch den Eisernen Vorhang waren eine seltene Angelegenheit. Auch die Wissenschaft in Ost und West bewegte sich weitgehend in getrennten Welten. Und am 1. September 1983, kurz vor meiner damaligen Einreise nach Leningrad, war eine Passagiermaschine der Korean Air Lines durch einen sowjetischen Abfangjäger westlich der russischen Insel Sachalin abgeschossen worden. 269 Menschen waren umgekommen. Die Emotionen auf beiden Seiten kochten hoch.
Für mich als Westdeutsche war es damals, 1983, eine einzigartige Gelegenheit gewesen, nicht nur ein anderes Land kennenzulernen, sondern auch ein gänzlich anderes politisches System. Vor allem aber hatte es mir auch die Möglichkeit gegeben, mit den Augen des vermeintlichen Gegners einen Blick auf den Westen zu werfen. Das war eine prägende Erfahrung. Sie war jedoch eingeschränkt durch die Erkenntnis, dass es unmöglich ist zu wissen, was ›der Gegner‹ wirklich denkt, wenn er dies nicht selbst preisgeben will. So bin ich gespannt, ob ich jetzt, im Land der Glasnost, Antworten auf meine unausgesprochenen Fragen von damals bekommen werde.
Bei meinem damaligen Flug war ich ein wenig mit meinem Sitznachbarn ins Gespräch gekommen, einem finnischen Ingenieur, der dienstlich unterwegs war. Ich erinnere mich wieder an seinen Satz: »Meiner Ansicht nach ist Leningrad die schönste Stadt der Welt. Sie ist etwas ganze Besonderes.« Dem konnte ich nach meinem Aufenthalt zustimmen und ich freue mich auf die Stadt, die mir in den damaligen Wochen zu einer zweiten Heimat geworden ist, und auf die Kollegen, die zu Freunden geworden sind.
Die Wolkendecke hat sich geschlossen. Wie auch beim letzten Mal greife ich zum Lexikon, um mir Sätze zurechtzulegen. Wie würde ich diesmal empfangen werden? Was für ein Gefühl hat mein erster Besuch wohl hinterlassen? Ich könne bei ihr wohnen, hat meine Kollegin Sonja am Telefon gesagt. Die Universität habe nicht mehr die Mittel, mich – wie beim letzten Mal – im Hotel unterzubringen. Ich freue mich auf diesen privaten Kontakt.
Am Spätnachmittag landen wir auf dem Flughafen Pulkowo, in der lauen Luft des nordischen Sommers.
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